Übergewicht galt lange als ein erstrebenswerter Zustand, verband man damit doch Wohlstand, Gesundheit, einen angenehmen Gemütszustand und Ansehen. Heute ist diese Denkweise nicht mehr angebracht, denn Übergewichtige werden eher diskriminiert als geachtet. Sie haben mit vielen psychosozialen und gesundheitlichen Nachteilen zu kämpfen. Zu den gesundheitlichen Handicaps gehört auch das erhöhte Krebsrisiko.
Wären in Deutschland alle Menschen normalgewichtig, so würden pro Jahr etwa 25.000 Personen weniger an Krebs erkranken, meinen die Experten des Deutschen Krebsforschungszentrums. Bei 6,9 % aller Krebserkrankungen soll Übergewicht ein entscheidender Einflussfaktor gewesen sein, sagen sie (Behrens et al 2018).
Die Weltgesundheitsorganisation betrachtet starkes Übergewicht (Adipositas) und Bewegungsarmut als das weltweit am schnellsten wachsende Gesundheitsproblem. Sie spricht von einer Epidemie, die ebenso energisch bekämpft werden müsse wie die tödlichen Infektionskrankheiten. Gelinge es nicht, dieses nach dem Nikotinkonsum größte Krebsrisiko einzudämmen, so erwarte uns in den nächsten Jahren „ein Tsunami“ an Krebsneuerkrankungen. Langfristig zahle sich die Reduzierung des Übergewichts in der Bevölkerung auch in ökonomischer Hinsicht aus, sagt das Deutsche Krebsforschungszentrum (Baumann 2018, Heikenwälder et al 2019).
Sowohl bei der Entstehung und Früherkennung von Krebs als auch während der Therapie und in der Nachsorge und Rehabilitation hat Übergewicht einen negativen Einfluss. Es beeinflusst den Stoffwechsel, die Darmflora, die Bewegung und – nicht zuletzt – die Psyche und das Wohlbefinden.
Das Geschäft mit Angeboten zur Gewichtsreduktion boomt. Diese sind jedoch selten evaluiert. Befördert wird das Marketing durch Ernährungsmythen und Fake News. Im vorliegenden Band werden die häufigsten diätetischen, medikamentösen, chirurgischen, psychologischen, apparativen und körperlich-sportlichen Abnehmeprogrammen, Empfehlungen und Ernährungsdogmen hinsichtlich ihres Nutzens und ihrer Nebenwirkungen – speziell in Bezug auf das Krebsgeschehen – analysiert und kommentiert. Empfehlungen nach dem Muster „Essen Sie weniger!“ oder „Machen Sie mehr Sport!“ gehören zur Vergangenheit; sie helfen dem Übergewichtigen bei seinen Abnehmebemühungen nicht weiter .
Ratgeber Übergewicht und Krebs
Die Weltgesundheitsorganisation betrachtet starkes Übergewicht (Adipositas) und Bewegungsarmut als das weltweit am schnellsten wachsende Gesundheitsproblem. Sie spricht von einer Epidemie, die ebenso energisch bekämpft werden müsse wie die tödlichen Infektionskrankheiten. Gelinge es nicht, dieses nach dem Nikotinkonsum größte Krebsrisiko einzudämmen, so erwarte uns in den nächsten Jahren „ein Tsunami“ an Krebsneuerkrankungen.
Im vorliegenden Band werden die häufigsten diätetischen, medikamentösen, chirurgischen, psychologischen, apparativen und körperlich-sportlichen Abnehmeprogrammen, Empfehlungen und Ernährungsdogmen hinsichtlich ihres Nutzens und ihrer Nebenwirkungen – speziell in Bezug auf das Krebsgeschehen – analysiert und kommentiert.
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Was ist Übergewicht?
Nach den Kriterien der Weltgesundheitsorganisation sind in Deutschland fast zwei Drittel der Männer (67 %) und mehr als die Hälfte der Frauen (53 %) übergewichtig (BMI > 25 kg/m2). Ein Viertel ist stark übergewichtig (BMI > 30 kg/m2). 3,9 % der Männer und 5,2 % der Frauen sind sogar extrem übergewichtig (BMI > 35 kg/m2). Sie gelten als besonders gesundheitsgefährdet (Robert-Koch-Institut 2018, Car Michael 2004, Völzke et al 2015, S3-Leitlinien 2014, Schaeffer, D et al 2017, Universität Bielefeld 2016, Mons et al 2018, Dietrich et al. 2018). Zwar stagniert in Deutschland gegenwärtig die Zahl der Übergewichtigen (BMI > 25), doch steigt der Anteil der stark Übergewichtigen (BMI > 30 kg/m2) vehement an. Ihre Anzahl hat sich seit 1980 nahezu verdoppelt.
Laut der Nationalen Verzehrstudie ist der Anteil der Übergewichtigen (BMI > 25 kg/ m2) in Mecklenburg-Vorpommern und dem Saarland am höchsten. Den niedrigsten Anteil an Übergewichtigen verzeichnet hingegen Hamburg (Max-Rubner-Institut 2008).
In Saudi-Arabien, den USA und Australien ist Übergewicht ein besonders großes Problem. Den stärksten Anstieg der Dickleibigkeit verzeichnet aber Mexiko, das inzwischen sogar die USA als das Land mit den meisten Übergewichtigen abgelöst hat. In manchen Regionen – so in Polynesien und Mikronesien – hat die Fettleibigkeit epidemische Ausmaße erreicht. Der durchschnittliche BMI soll dort bei Männern 32,2 kg/m2 und bei Frauen 34,8 kg/m2 betragen.
Besonders besorgniserregend ist die Situation bei Kindern und Jugendlichen. Der Anteil extrem dicker Kinder und Jugendlicher hat sich in den vergangenen vierzig Jahren weltweit vervierfacht (WHO 2017). In Deutschland sind heute 15,4 % der Kinder übergewichtig, 4 – 6 % sogar adipös, also stark übergewichtig. In Südeuropa ist starkes Übergewicht verbreiteter als in Nordeuropa (Robert-Koch-Institut 2018, Kiggs Studie, COSI-Studie). Dicke Kinder und Jugendliche mit einem Body-Mass-Index über 30 und einer diabetischen Stoffwechsellage sind keine Seltenheit mehr. Kinderärzte berichten über eine erschreckende Zunahme von Zivilisationskrankheiten im Kindes- und Jugendalter.
Zunehmend erkranken jüngere Menschen an Krebs. Auffallend ist, dass bei ihnen gerade solche Krebserkrankungen zunehmen, bei denen man von einer Assoziation mit der Adipositas ausgeht. Bei Krebserkrankungen – bei denen keine Assoziation mit Übergewicht besteht – gibt es keine Verlagerung in jüngere Altersgruppen (Koroukian et al 2019).
Gesundheitsrisiko Übergewicht
Die Liste der Krebsarten, die nachweislich durch Übergewicht begünstigt werden, wird immer länger. Während Zusammenhänge bei Darm- und Brustkrebs schon lange bekannt sind, zeigen neuere epidemiologische Untersuchungen, dass starkes Übergewicht das Risiko vieler weiterer Karzinome erhöht. Das Deutsche Krebsforschungszentrum geht inzwischen davon aus, dass bei etwa 7 % aller Krebsneuerkrankungen in Deutschland ein enger Zusammenhang mit starkem Übergewicht (BMI > 30) besteht (Behrens et al 2018). Krebsepidemiologen anderer Länder schätzen den Prozentanteil noch höher ein (Pearson-Stuttard et al 2015, 2018). Die IARCC (International Agency for Research on Cancer) behauptet, Übergewicht sei eine (Mit)Ursache bei etwa 25 % der weltweit am meisten verbreiteten Krebserkrankungen (Vainio et al 2002). Übergewicht soll inzwischen den Tabak als wichtigste vermeidbare Krebsursache abgelöst haben. Es soll an der Spitze der vermeidbaren Krebsrisiken stehen, meinen viele Epidemiologen (Renehan 2008, Kyragio et al 2017). Die Lebenserwartung in den OECD-Ländern könnte sich insgesamt um fast drei Jahre verringern, wenn der Trend zu Übergewicht weiter anhält, betont die OECD.
Statistiker haben berechnet, wieviel gesunde Lebensjahre Erwachsene (im Alter von 40 bis 75 Jahren) durch Übergewicht verlieren. Nach ihren Berechnungen sollen übergewichtige Männer und Frauen (BM 25 bis 30 kg/m2) 1,1 gesunde Lebensjahre verlieren. Schweres Übergewicht (Adipositas Grad I = BM 30 bis 34 kg/m2) soll Männern 3,9 und Frauen 2,7 gesunde Lebensjahre kosten. Bei schwerem Gewicht (Adipositas Grad II = BMI > 35 – 40 kg/m2) verlieren Männer 8,5 und Frauen 7,3 gesunde Jahre. Ein BMI von Grad III > 40 kg/m2 soll das Sterberisiko um 4 bis 12 Jahre vorverlegen (Nyberg et al 2018). Je höher das Gewicht, umso mehr Begleiterkrankungen und Risikofaktoren und umso höher das Sterberisiko! Ob Übergewichtige mit einem BMI von 25 bis 29 – also mittlerem Übergewicht – früher sterben als Normgewichtige ist nicht belegt. Ja, es gibt sogar Statistiken, wonach Menschen mit einem BMI von 25 bis 27 die höchste Lebenserwartung haben.
Je nach medizinischer Disziplin gibt es verschiedene Schwellenwerte, ab denen Übergewicht ein gesundheitlicher Risikofaktor ist. So weisen Kardiologen auf ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen schon bei leicht erhöhtem Übergewicht hin (also ab einem BMI > 25), während Onkologen von einem erhöhten Krebsrisiko erst ab einem BMI > 30 ausgehen. Letztere messen dem Fettgehalt und speziell der Fettverteilung eine größere Bedeutung bei als dem Körpergewicht. Sie verweisen auf Statistiken, wonach Menschen das höchste Krebs- und Sterberisiko bei gleichzeitig niedrigem Body-Mass-Index (BMI) mit hohem Bauchumfang haben (Pischon et al 2008).
Übergewicht, ein Risiko für (Begleit-)Erkrankungen
Fettreserven aufzubauen, war zu Zeiten der „Jäger und Sammler“ überlebenswichtig. Wer damals den Überschuss der Energien in Fettzellen abspeicherte, hatte in Notzeiten Vorteile, auch – entsprechend der Darwinschen Evolutionstheorie – Selektionsvorteile. Heute bringt Übergewicht Nachteile – und dies nicht nur in gesundheitlicher Hinsicht. Stark Übergewichtige sind auch beruflich und gesellschaftlich benachteiligt, ja werden teilweise gemobbt.
Viele chronische Erkrankungen stehen in ursächlichem Zusammenhang mit Übergewicht. Einige rühren von der Überlastung des Stützskelettes her, andere von überforderten und in ihrer Funktion gestörten Organen. Bei den Begleit- und Folgeerkrankungen liegt der Typ-2-Diabetes ganz vorne, gefolgt von Einschränkungen des Bewegungsapparates, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, einem höheren Risiko für Schlaganfall und nicht zuletzt auch Krebs (Vainio et al 2002). Die schwersten Verläufe von COVID-19 beobachtete man bei untrainierten, stark übergewichtigen Menschen, die hohen Blutdruck und Diabetes mellitus Typ 2 haben. Fettleibigkeit ist ein starker, unabhängiger Risikofaktor für einen ungünstigen Krankheitsverlauf bei COVID-19-Patienten.
Häufige Begleiterkrankungen bei starkem Übergewicht
- Einschränkungen des Bewegungsapparates (z. B. Rückenschmerzen, Arthrosen)
- Herz-Kreislauf-Erkrankungen (z. B. Koronare Herzerkrankung, Herzinfarkt, Herzinsuffizienz)
- Bluthochdruck (z. B. Schlaganfall, Arteriosklerose)
- Beeinträchtigungen der Lungenfunktion (z. B Schlaf-Apnoe-Syndrom, Asthma, Pickwick-Syndrom)
- Beeinträchtigung der Schlafqualität
- Entstehung von Magen-Darm-Erkrankungen (z. B. Gallensteine, Reflux-Erkrankungen, Fettleber, Leberzirrhose)
- Stoffwechselerkrankungen (z. B. metabolisches Syndrom, Typ-2-Diabetes, Gicht, Fettstoffwechselstörungen, Eisenmangel)
- Urologische Erkrankungen (z. B. Urininkontinenz, Prostatakrebs, Nierenkrebs)
- Psychiatrische Erkrankungen (Angststörungen und Depressionen)
- Krebserkrankungen (z. B. Karzinome des Dickdarms, der Leber, der Gallenblase, des Uterus, der Brust, der Eierstöcke, der Prostata, der Niere und der Bauchspeicheldrüse)
- Augenerkrankungen (z. B. Katarakt)
- Dermatologische Erkrankungen (z. B. Intertrigo, Dermatitis)
- Gerinnungsstörungen (z. B. Thrombosen und Thromboembolien, tiefe Beinvenenthrombosen)
- Vorzeitiger geistiger Verfall, bis hin zur Demenz (?)
- Funktionsstörungen (z. B. Zuckerstoffwechsel, Beeinträchtigung der Periode, unerfüllter Kinderwunsch, geringere Wirksamkeit der hormonellen Antikonzeption („Pille“)
- Schwerer Verlauf bestimmter Viruskrankheiten (z. B. COVD-19)
- Hohe Operationsrisiken und Therapiekomplikationen
Übergewicht, ein Risiko für Krebserkrankungen
Die Mehrheit der Bevölkerung bringt Krebs eher mit Unter- als mit Übergewicht in Verbindung. Tatsächlich sind die Zusammenhänge zwischen Übergewicht und der Entstehung klinisch relevanter Krebserkrankungen jedoch eindeutiger. Sie sind allerdings nicht bei jeder Krebsart gleich ausgeprägt. Der zur Krebser-krankung führende Wirkmechanismus ist z. B. bei hormonempfindlichen Karzi-nomen (Brust-, Gebärmutter- und Prostatakrebs) ein anderer als bei hormon-unabhängigen Tumoren.
Krebserkrankungen, bei denen ein ursächlicher Zusammenhang mit Übergewicht angenommen wird
- Speiseröhre (Adenokarzinom)
- Magen (speziell am Mageneingang)
- Bauchspeicheldrüse
- Gallenblase
- Leber
- Dickdarm (weniger der Enddarm)
- Brust (vorwiegend nach den Wechseljahren)
- Eierstock
- Gebärmutter
- Prostata
- Niere
- Melanom (?)
- Multiples Myelom
- Akute Leukämien und Non-Hodgkin-Lymphome
Je ausgeprägter das Übergewicht ist, umso größer ist die Erkrankungsgefahr. Starkes Übergewicht (BMI > 30 kg/m2) ist ein eindeutiger Risikofaktor, mittleres Übergewicht (BMI zwischen 27 und 30 kg/m2) eher ein wahrscheinliches Risiko. Leichtes Übergewicht (BMI zwischen 24 und 27 kg/m2) beeinflusst weder das Krebsentstehungs- noch das Sterblichkeitsrisiko.
Mehrere Wirkmechanismen kommen, in Frage (Heikenwälder et al 2019). Als gesichert gilt, dass Übergewicht – anders als klassische Kanzerogene – nicht die DNA-Struktur schädigt und Mutationen erzeugt, sondern die Aktivität und Wirkung von Kanzerogenen und Genmutationen beeinflusst. Übergewicht ist somit ein Tumorpromotor. Erst das Zusammenwirken von Tumorpromotoren mit Genmutationen führt zu einer Krebserkrankung!
Übergewicht ist häufig mit einer Insulinresistenz und einem erhöhten Insulinspiegel assoziiert, der das Zellwachstum stimuliert und latente Krebszellen aktiviert. Dass Insulin den Abbau von Fett hemmt und so die Bildung von Fettdepots begünstigt, ist ein weiterer Faktor, der die Krebsentstehung begünstigt.
Eine große Bedeutung haben Entzündungsfaktoren. Fettgewebe unterstützt einen dauerhaften Entzündungszustand, der zum Wachstum und zur Aggressivität von Krebszellen beiträgt. Entzündungsstoffe schwächen auch die Immunabwehr und begünstigen somit die Krebsentwicklung.
Bei Übergewichtigen kommt es häufig zu einer veränderten Zusammensetzung der Darmflora (Dysbiose). Chronische Entzündungen und Erkrankungen des metabolischen Syndroms sind die Folge. Sie gelten als Krebsrisikofaktoren
Bei korpulenten Frauen ist das Fettgewebe nach den Wechseljahren eine Quelle für die Aromatase und Östrogene. Letztere fördern hormonabhängiges Krebswachstum im Brustgewebe und in den Schleimhautzellen der Gebärmutter.
Neben Immunzellen können Fettzellen selbst Signalmoleküle produzieren (Adipokine). Zu den bekanntesten gehören Adipokin und Leptin. Leptin beeinflusst das Hungergefühl. Niedrige Adinopectin-Werte korrelieren mit einem erhöhten Risiko für Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und bösartige Tumore. Bei stark übergewichtigen Personen wird Adiponectin in geringeren Mengen nachgewiesen als bei normalgewichtigen Menschen.
Übergewicht erschwert die Diagnostik, so z. B. sonografische Untersuchungen. Wegen der eingeschränkten Strahlenplanung, der beeinträchtigten Medikamentenwirkung und der höheren Operationsrisiken verlaufen Krebserkrankungen bei Übergewichtigen häufig ungünstiger.
Übergewichtige haben in der Nachsorge eindeutige Nachteile; so z. B. ein höheres Wiedererkrankungsrisiko. Für das Rehabilitationsteam stellen stark Übergewichtige eine Herausforderung dar.
Quelle und Buchempfehlung:
Übergewicht und Krebs: Empfehlungen zur Gewichtsabnahme und Krebsvorbeugung (Personalisierte Krebsvorsorge und Früherkennung) Band 7
Hermann Delbrück ist Arzt für Hämatologie – Onkologie und Sozialmedizin sowie Rehabilitation und physikalische Therapie und Hochschullehrer für Innere Medizin und Sozialmedizin. Während seiner Laufbahn in der experimentellen, kurativen und vor allem rehabilitativen Onkologie veröffentlichte er mehrere Lehrbücher. Er ist der Herausgeber zahlreicher Ratgeber für Betroffene mit Krebs. Seit seiner Emeritierung 2007 befasst er sich vorrangig mit Fragen der Prävention von Krebs.