Wie glaubhaft sind statistische Häufigkeitsangaben aus verschiedenen Ländern?
Die Frage, warum Menschen in einigen Regionen mehr, in anderen eher selten an Krebs erkranken, ist Gegenstand intensiver und teilweise kontroverser Diskussionen. Nicht selten werden übereilte und falsche Rückschlüsse aus gemeldeten Häufigkeitsangaben gezogen. Angaben zu demographisch bedingten Erkrankungsrisiken und Häufigkeiten sollten daher sehr kritisch interpretiert werden. Manchmal ist es angebrachter, aufgrund der statistischen Angaben von „Entdeckungs“- statt Erkrankungsrisiken zu sprechen. Viele Gründe lassen sich dafür anführen. Die statistischen Häufigkeitsangaben von Lungenkrebserkrankungen in den verschiedenen Ländern und Kulturkreisen beruhen weitgehend auf Angaben von Sterberegistern, seltener auf solchen zur Erkrankungshäufigkeit, wie sie in modernen Krebsregistern dokumentiert werden. Angaben zur Sterblichkeit (Mortalität) sind aber in keiner Weise identisch mit der Häufigkeit (Inzidenz und Prävalenz). Die Qualität der in den Sterbebescheinigungen erwähnten Todesursachen ist im Übrigen sehr unterschiedlich. Lungenkrebserkrankte haben häufig schwerwiegende Begleiterkrankungen; der eine Arzt wird bei ihnen als Todesursache Lungenkrebs angeben, ein anderer Herzschwäche, Lungenschwäche oder ein weiteres Gebrechen. Unterschiedliche Altersverteilungen werden in vielen Berichten nicht berücksichtigt. Dabei ist die Krebshäufigkeit in einer Region mit einem hohen Anteil alter Menschen im Vergleich zu einer solchen mit einer eher jüngeren Bevölkerung allein schon aufgrund der unterschiedlichen Altersstruktur erhöht.
Gibt es geographische und regionale Häufigkeitsunterschiede?
Trotz berechtigter Bedenken bzgl. der Zuverlässigkeit der aus verschiedenen Ländern gemeldeten statistischen Häufigkeitsangaben, besteht kein Zweifel daran, dass Lungenkrebs in einigen Regionen
und Kulturkreisen – auch unter Berücksichtigung der Intensität des Tabakkonsums – unterschiedlich häufig vorkommt. Die Erkrankungshäufigkeit kann von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent,
bis zum Zehnfachen variieren. Unterschiedliche Häufigkeiten haben nur teilweise mit vererbbaren rassischen Besonderheiten zu tun; wichtiger sind Umwelteinflüsse und der Lifestyle. Dass in den westlichen Industrieländern beispielsweise das Erkrankungsrisiko abnimmt, in den Ländern der Dritten Welt hingegen zunimmt (Alberg et al 2007), ist mit unterschiedlichen Umwelteinflüssen zu erklären. Unterschiedliche Rauchgewohnheiten, die verschiedenartige berufliche Exposition gegenüber Kanzerogenen, die Strahlenbelastung, die Luftverschmutzung sind die
häufigsten erworbenen Ursachen. Auch Ernährungsfaktoren und Lifestyle-Faktoren spielen eine Rolle.
In Regionen mit hohem Zigarettenkonsum ist die Lungenkrebshäufigkeit hoch. Dort, wo der Zigarettenkonsum ansteigt, nimmt auch die Lungenkrebshäufigkeit zu. Dort, wo Tabakentwöhnungsmaßnahmen
stattfinden, nimmt die Erkrankungshäufigkeit mit etwa 15 bis 20 Jahren Verzögerung ab. Dass eine spezielle genetische Prädisposition der Grund für die sehr häufigen Lungenkrebserkrankungen bei Chinesen ist, ist denkbar. Wahrscheinlichere Ursachen sind aber der dort erhebliche Tabakund Alkoholabusus sowie die Schadstoffbelastung in der Luft, die sozialen Bedingungen und die Lebensweise der Bevölkerung. China ist ein „Raucherland“, in dem Jugendliche schon mit 12 Jahren mit dem Tabakkonsum anfangen. Dass in Asien wesentlich mehr Nichtraucher an Adenokarzinomen
der Lunge erkranken, ist möglicherweise weniger eine Folge der Schadstoffe in der Luft und hängt auch nicht mit genetischen Besonderheiten zusammen, sondern wird mit bestimmten Virusinfektionen
in Zusammenhang gebracht.
Auch in Europa, ja, selbst in Deutschland, gibt es spürbare Häufigkeitsunterschiede. Das Erkrankungsrisiko ist in Europa am höchsten in Polen, Ungarn, Belgien und Tschechien, am niedrigsten in Schweden, Finnland und Norwegen. Bei den Frauen führen Dänemark und die Niederlande die Statistik an. Deutschland liegt sowohl bei den Männern als auch den Frauen im Mittelfeld.
Die kartographischen Darstellungen des deutschen Krebsregisters (www.gekid.de) zeigen auffallend mehr Erkrankungen im Norden und Nordosten der ehemaligen DDR, besonders in Thüringen. Regionen mit etwas niedrigeren Raten sind Hessen, Baden-Württemberg und Bayern. Auffallend häufig sind Bronchialkarzinom-Erkrankungen in denjenigen Bergbaugebieten, in denen nach dem Zweiten Weltkrieg auf Betreiben der Sowjetunion in großem Stil Uranabbau erfolgte und es zu einer hohen Radonexposition kam. Dass Lungenkarzinome bei Menschen schwarzafrikanischer Herkunft in den USA so viel häufiger als in ihren Heimatländern und bei Menschen europäischer Abstammung sind, wird auch auf soziale Einflüsse zurückgeführt. Nicht nur Lungenkrebs, sondern auch andere Krebserkrankungen sind in den sozial weniger privilegierten Bevölkerungsschichten häufiger. Bei der schwarzen Bevölkerung in den USA, aber auch bei den Maoris in Neuseeland gibt es wesentlich mehr Lungenkrebskranke als unter der weißen Bevölkerung. Ihr Erkrankungsalter ist auch niedriger.
Erkranken arme Menschen häufiger?
Hat die Bildung einen Einfluss?
Armut ist ein Risikofaktor für gesundheitliche Beeinträchtigungen, auch für Krebs. Menschen mit niedrigem Einkommen, schlechter Ausbildung und geringerer Bildung erkranken häufiger. Nicht nur
Lungenkrebs, sondern die meisten Krebserkrankungen sind in wirtschaftlich weniger privilegierten Bevölkerungsschichten häufiger. Ursache sind häufigeres inhalatives Rauchen, die stärkere Exposition mit krebsfördernden Stoffen im Privat- und Arbeitsleben, der verbreitete Alkohol- und Tabakkonsum, der schlechtere Zugang zu medizinischen Leistungen und der geringere Bildungsgrad. Unter Menschen ohne Schulabschluss befinden sich siebenmal häufiger Raucher als unter Absolventen mit einem Hochschulabschluss (Helmert 2003, Lampert 2010). In den USA gibt es unter der sozial deklassierten schwarzen Bevölkerung wesentlich mehr Krebskranke als in der weißen Mittel- und Oberschicht. Ihr Erkrankungsalter ist zudem niedriger. Schlechtere soziale Bedingungen, besondere Lebensgewohnheiten, niedrigere Bildungsstand und geringere Wahrnehmung von medizinischen Angeboten gelten als Ursachen. Nicht allein Lungenkrebs, auch viele andere Tumorerkrankungen treten häufiger auf.
Quelle und Buch-Tipp:
Hermann Delbrück ist Arzt für Hämatologie – Onkologie und Sozialmedizin sowie Rehabilitation und physikalische Therapie und Hochschullehrer für Innere Medizin und Sozialmedizin. Während seiner Laufbahn in der experimentellen, kurativen und vor allem rehabilitativen Onkologie veröffentlichte er mehrere Lehrbücher. Er ist der Herausgeber zahlreicher Ratgeber für Betroffene mit Krebs. Seit seiner Emeritierung 2007 befasst er sich vorrangig mit Fragen der Prävention von Krebs.